Von Brücken, Gräben und einem gemeinsamen Boden

Die Vorbereitungen für den Online-Summit der Pioneers of Change laufen, und das diesjährige Motto ist „Brücken bauen für eine menschliche Zukunft“. Im Rahmen der Community tauchen wir immer wieder in das Thema ein. Das Bild der Brücke bietet viele Perspektiven. Einige, die es bei mir ausgelöst hat, teile ich jetzt.

Potluck Online-Summit Brücken bauen Farbbild

Brücken werden zur Verbindung zweier Orte, die durch eine ansonsten schwer überwindbare Landschaft getrennt sind. Wenn wir über die Begegnung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen reden, bedienen wir uns auch häufig des Brückenbildes. Manchmal hört es sich dabei für mich so an, als hätten wir dabei unterschiedliche Inseln vor Augen, die nichts miteinander verbindet. Wir bauen Brücken in der Hoffnung, dass eine Verbindung entsteht.

Plötzlich taucht die Frage auf, ob in diesem Fall immer nur eine Seite die Notwendigkeit für einen Brückenbau erkennt, und dieser somit das Vorhaben einer „Insel“ bezeichnet. Sprechen wir auch von Brücken, wenn zwei Seiten miteinander in Kontakt treten wollen? Oder benennen wir das dann eher als „aufeinander zugehen, sich annähern, Kontakt aufnehmen“? Niemand kommt auf die Idee, Brücken zu Freunden zu bauen. Braucht es fürs „Brücken bauen“ Differenzen und kann es sein, dass wir durch den Prozess die Unterschiede noch stärker manifestieren?

Dieses „Inseldenken“ ist häufig Grundlage beruflicher Praktiken, beispielsweise bei der Ausschreibung von Förderprogrammen. Die Benennung von Kategorien und Differenzen wird dann Rechtfertigungsgrundlage für einen jeweiligen Bedarf. Ich erinnere mich an meine Zeit, als der ich an einer Hochschule tätig war, und ein Förderprogramm für Studierende ausgeschrieben wurde, das darauf abzielte, Bildungsinländer zu unterstützen. Ich hatte viele Kontakte mit Menschen, die dieser Kategorie zugeordnet werden könnten, aber die meisten von ihnen waren es leid, in eine Schublade gesteckt zu werden. Sie hatten viel Energie aufgebracht, nicht ein bestimmtes Label aufgedrückt zu bekommen, sondern „ganz normal“ zu studieren.
Ein anderes Beispiel: eine Bekannte erzählt, dass ihr ältester Sohn beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule automatisch in die Klasse mit Kindern mit „Migrationshintergrund“ gesteckt wurde, ohne Testung der sprachlichen Voraussetzungen. Nach Kritik vieler Eltern existierte diese Praxis bei der Einschulung der Tochter ein paar Jahre später nicht mehr.
Den Förderprogrammen lag die Erkenntnis zugrunde, dass es im Bereich der Bildung statistisch betrachtet große Unterschiede zwischen Bildungsinländern und Herkunftsdeutschen gibt. Sie beruhen auf unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und benötigen daher sehr wohl unsere Aufmerksamkeit. Und zugleich geht die Vergabe der „Kategorien“ mit sehr viel Macht über andere einher, und ich spüre, wie sie einengend ist, fest macht und bestehende Machtverhältnisse verstärkt.

Eine andere Perspektive ermöglicht es, die Inseln als Inseln wahrzunehmen und dabei auch zu erkennen, dass sie nicht nur aus dem Teil bestehen, den wir über der Oberfläche sehen. Das sogenannte Eisbergmodell besagt, dass wir, wenn wir ein umfassendes Verständnis von etwas erhalten wollen, unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf das Wahrnehmbare wenden sollen, sondern auch auf dessen unsichtbaren Grundlagen. Wenn wir beginnen dort zu forschen, können wir langsam erfahren, auf was das Sichtbare baut, was es ausmacht. Wie es zu dem geworden ist, was wir oben sehen. Immerhin liegen bis zu 80% im Verborgenen. Das heißt, dass es sehr viel zu entdecken gibt, und es unter der Oberfläche richtig interessant wird. Lasst uns unsere Perspektive wechseln und gemeinsam in die Tiefe der Gräben steigen, die zwischen uns liegen, uns dort begegnen und untersuchen, was dieser Perspektivwechsel uns eröffnet. Wie können wir uns vorstellen, hinab in Gräben zu steigen und im Morast zu wühlen? Das hört sich wild an, oder? Erst einmal erscheint es ungewohnt und vielleicht macht es auch Angst. Was kann dort auftauchen, wenn wir uns auf dieser Ebene begegnen, nicht mehr der sichere Graben zwischen uns liegt?

Otto Scharmer beschreibt in seiner Theorie U einen Transformationsprozess, der durch einen chaordischen Prozess führt. Wenn wir neugierig, mutig und mitfühlend eintauchen, können wir der Tiefe vertrauen, das Chaos aushalten und zu einer tieferen Weisheit gelangen. So lassen wir uns überraschen, von dem, was sich zeigt, im Vertrauen, dass das Eintauchen allein schon eine neue Qualität des Miteinanders hervorruft. Und wir nicht so auftauchen werden, wie wir hinabgetaucht sind, und auch nicht an dem Ort auftauchen werden, den wir uns aus unserem sicheren „Inselabstand“ ausgemalt haben. Lasst uns dem gewohnten Impuls widerstehen, schnell zu einer vermeintlichen „Lösung“ auf die springen, sondern erst durch die Tiefe gehen und uns der Tiefe anvertrauen.

“Der Verstand schafft den Graben, das Herz überwindet ihn.”

Sri Nisargadatta

Und wenn wir ganz hinab tauchen, können wir auch spüren, dass die einzelnen Inseln tief unter dem Wasser miteinander verbunden sind, dass sie ein gemeinsamer Grund verbindet. Können wir diesen Grund Menschlichkeit nennen? Was löst dies bei uns aus? Stehen wir auf ein und demselben Boden und sind durch Menschlichkeit verbunden? Und was passiert dann mit dem Bild der weit voneinander entfernten Inseln? Verlieren sie an Bedeutung, und ist es auf einmal möglich, uns den verbindenden Elementen zuzuwenden?